«Das darf es in Europa nicht mehr geben»

«Das darf es in Europa nicht mehr geben»

Dal Tages Anzeiger del 12 agosto 2016 | Simonetta Sommaruga zeigt sich betroffen über die Flüchtlingscamps in Como. Alle Dublin-Staaten müssten ihren Teil der Verantwortung übernehmen.

Im Juni waren es mehr als 100 pro Tag, Männer, Frauen, Kinder, die nach einer zum Teil lebensgefährlichen Flucht im Tessin aufgegriffen wurden. Weil sie weder über die nötigen Papiere verfügten noch einen Asylantrag stellten, schickten sie die Grenzwächter umgehend nach Italien zurück. Einige versuchen es immer wieder, verstecken sich in Zügen, die nach Chiasso fahren, nur um wieder erwischt zu werden. Derzeit halten sich rund 350 von ihnen in Como in einem Camp auf, werden am Mittag von Freiwilligen mit Mahlzeiten versorgt und stellen sich auf eine weitere Nacht unter freiem Himmel ein.

«Kein Transitland»

«Es ist schwer erträglich, solche Zustände zu sehen. Das darf es in Europa nicht mehr geben», sagte Justizministerin Simonetta Sommaruga gestern in der Orangerie Elfenau in Bern. Hätte sie dieses herrschaftliche Anwesen für einen Medientermin zur Flüchtlingskrise ausgesucht, hätte man ihr Zynismus vorgeworfen – immerhin empfing die russische Grossfürstin Anna Feodorowna dort vor 200 Jahren die bessere Berner Gesellschaft. Tatsächlich waren Ort und Termin schon lange festgelegt und der Anlass bloss als informeller Austausch mit Bundeshausjournalisten geplant. Doch dann wurde Sommaruga von der Aktualität überrollt.

Der Tessiner Justizminister Norman Gobbi (Lega) forderte gestern im TA, der Bundesrat müsse nun signalisieren, dass Migranten nicht durch die Schweiz nach Nordeuropa reisen dürften. Auch Sommaruga lehnt einen Korridor für legale Durchreisen entschieden ab. «Die Schweiz will kein Transitland werden. Das wäre nicht rechtmässig und gegenüber Deutschland nicht zu rechtfertigen», sagte Sommaruga. Ausserdem pochte Sommaruga auf die Einhaltung der Regeln des Dubliner Übereinkommens. Jeder Asylsuchende müsse in der Schweiz oder einem anderen europäischen Land ein Asylgesuch stellen können. Wo das Verfahren durchgeführt werde, sei aber nicht Sache der Asylbewerber.

Trotz der angespannten Lage vor der Schweizer Grenze: Im Juli wurden weniger Asylgesuche gestellt als im Juli des Vorjahres. Dies geht aus der Asylstatistik hervor, die gestern publiziert wurde. Knapp 2500 Asylgesuche wurden gestellt, 150 mehr als im Vormonat, aber 1400 weniger als im Juli 2015. Das erklärt das Staatssekretariat für Migration (SEM) in erster Linie damit, dass markant weniger Asylbewerber aus Eritrea in die Schweiz kommen. In den ersten sieben Monaten des Jahres sind ungefähr halb so viele Eritreer in Süditalien gelandet wie im Vorjahr. Ausserdem werden laut SEM in Deutschland mehr Eritreer registriert als bisher.

Der starke Rückgang ist allerdings nur eine Momentaufnahme. Seit Jahresbeginn registrierte das SEM total 16 800 Gesuche – 1000 mehr als in derselben Periode des Vorjahres. «Der Grund ist, dass Anfang Jahr die Asylzahlen höher waren als in üblichen Wintermonaten. Wir verzeichneten überdurchschnittlich viele Asylsuchende aus Afghanistan, Syrien und dem Irak, die über die Balkanroute in die Schweiz gelangten», sagt Léa Wertheimer vom SEM.

Folgt man den Erläuterungen der Justizministerin, war der Rückgang im Juli aber kein Zufall. Die Zusammenarbeit mit Italien funktioniere heute besser als bisher. Konkret: Italien registriere heute deutlich mehr Migranten als bis anhin. Diese seien sich immer häufiger bewusst, dass ein Asylgesuch in der Schweiz deshalb aussichtslos sei, sagte Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Deshalb würden viele Migranten nicht hierbleiben wollen, sondern nach Deutschland oder Nordeuropa weiterreisen.

Hart ins Gericht ging Sommaruga mit den Dublin-Partnern: «Europa hat nach wie vor keine überzeugende Antwort auf die Herausforderungen in dieser Flüchtlingskrise.» Alle Dublin-Staaten müssten ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Es brauche einen allgemeingültigen, dauerhaften Verteilschlüssel, nach dem die Flüchtlinge zugeteilt werden. Nur: «Diese Lösung wird sich höchstwahrscheinlich nicht durchsetzen», sagte Sommaruga.

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