Die Schweiz soll sich auf Flüchtlingswelle aus der Ukraine vorbereiten

Die Schweiz soll sich auf Flüchtlingswelle aus der Ukraine vorbereiten

Der Tessiner Staatsrat Norman Gobbi ist der Meinung, dass sich die Schweiz 15 Jahre nach der Kosovo-Krise «wieder auf Migration innerhalb Europas» vorbereiten müsse.

Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat in der Schweiz innenpolitische Folgen: Bürgerliche sehen Konsequenzen für die Sicherheitspolitik, Linke für die Neutralität.

 

 

Am nächsten Samstag kommt es zu einer Art Gipfeltreffen in der Schweiz. Nicht an einem Genfer Verhandlungstisch. Sondern auf dem Eis. Um 17 Uhr spielen die Veteranen des HC Ambri-Piotta gegen eine Auswahl von «Legenden des sowjetischen Eishockeys», mit Stars wie Pavel Bure, Valeri Kamenski, Alexei Kasatonow und Slawa Bykow. Gecoacht wird die Auswahl von Alexander Jakuschew, dem persönlichen Eishockey-Trainer von Wladimir Putin. 

 

Die Partie im Eisstadion Bellinzona finde im Rahmen der Feierlichkeiten zu 200 Jahren diplomatischer Beziehungen zwischen der Schweiz und Russland statt, heisst es auf der Ambri-Website. Aber auch, «um die völkerverständigende Rolle des Sports in politisch schwierigen Zeiten» hervorzuheben. Deshalb sind die Botschafter Russlands, der Ukraine, Georgiens und anderer Länder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) anwesend. Schiedsrichter ist der Tessiner Staatsrat Norman Gobbi. 

 

Gobbi ist Präsident der Konferenz der kantonalen Militärdirektoren. Und der Lega-Politiker hat sich einige Gedanken gemacht über die Auswirkungen des Ukraine-Konflikts auf die Schweiz. «Der Konflikt zeigt, dass man konventionelle Auseinandersetzungen nicht ausschliessen kann», analysiert er. «Man darf deshalb die traditionelle Verteidigung nicht abschaffen, auch wenn man sie logischerweise anpassen muss.» Konventionelle Auseinandersetzungen seien im Sicherheitspolitischen Bericht 2010 fast kein Thema gewesen. «Sie müssen im Bericht 2015 wieder einfliessen, als Prüfung des hybriden Gegners mit konventionellen und unkonventionellen Kräften.» 

 

«Die Szenarien, die man nach dem Kalten Krieg und nach dem Balkan-Krieg zur Seite legte, sind wieder aktuell.»

Norman Gobbi, Tessiner Militärdirektor


Gobbis Fazit: «Die Szenarien, die man nach dem Kalten Krieg und nach dem Balkan-Krieg zur Seite legte, sind wieder aktuell.» Der Tessiner Militärdirektor geht sogar noch weiter. 15 Jahre nach der Kosovo-Krise müsse sich die Schweiz «wieder auf Migration innerhalb Europas» vorbereiten, findet er. Dabei denkt er explizit an einen möglichen ukrainischen Flüchtlingsstrom in Richtung Europa und in die Schweiz. «Die EU-Innenminister wollen den Schengen-Raum auf Moldawien ausdehnen. Damit läge die Ukraine direkt an der Schengen-Aussengrenze. Und die Bevölkerung der Ukraine ist deutlich grösser als jene des Kosovo.» Während der Kosovo heute rund 1,8 Millionen Einwohner umfasst, sind es in der Ukraine 45,4 Millionen. 

 

Am Montag und Dienstag in einer Woche wird der Konflikt auch zum Thema in der Sicherheitspolitischen Kommission (SiK) des Nationalrats. Präsident Thomas Hurter (SH/SVP) hat ihn traktandiert, wie er bestätigt. «Weil wir Sicherheitspolitiker sind, wollen wir uns einerseits über die Situation informieren lassen», sagt er. Andererseits solle die SiK diskutieren, «was der Konflikt sicherheitspolitisch für unser Land bedeutet». 

 

Persönlich glaube er, die Schweiz dürfe nicht «in das eine oder andere Boot» steigen, müsse strikt neutral bleiben. «Sie ist sehr gut vernetzt und hat die Chance auf eine Vermittlerrolle.» Für Hurter ist aber auch klar, «dass sich in relativ unmittelbarer Nähe der Schweiz Unstabilität» zeige. «Das verdeutlicht: Sicherheitspolitisch sind Armee und Grenzschutz wichtig für die Schweiz als neutralem und souveränem Staat.» 

 

Während bürgerliche Politiker die Folgen des Konflikts für die Sicherheitspolitik betonen, streichen Linke die Konsequenzen für die Neutralität hervor. «Der Konflikt bringt die Frage der Neutralität auf den Tisch», sagt Carlo Sommaruga (GE/SP), Präsident der Aussenpolitischen Kommission (APK). «Sie muss um internationales Recht, humanitäres Recht, Grundrechte und Demokratie gebaut sein.» So sei eine klare neutrale Linie geschaffen, die darüber hinaus die Schweizer Werte integriere. «Die Schweiz muss hart reagieren gegenüber einem Land, das internationales Recht regelmässig und gravierend verletzt», sagt er. Sie dürfe nicht schweigen «wie gegenüber Israel, das seit Jahrzehnten internationales Recht erheblich verletzt». Und die Schweiz müsse auch wirtschaftliche Konsequenzen folgen lassen. Sonst werde sie das «teuer bezahlen». 

 

Von einem «Stresstest» für das Verständnis der Neutralität spricht auch SP-Nationalrat Andreas Gross, Spezialist für Russland im Europarat. «Die Schweiz wird mit der Herausforderung konfrontiert, die Gelder, die hier parkiert sind, nicht weiter zu behalten, will sie nicht zur Komplizin Russlands werden», sagt er. Die Schweiz sei eines der Lieblingsländer der russischen Elite. «Putin selbst hat über Strohmänner viel Geld in der Schweiz», hält Gross fest. Der Westen werde den Druck gegenüber der Schweiz «massiv erhöhen». 

 

 

Eskaliere der Konflikt trotz des Abkommens von Genf, betont Sommaruga, «kann die Schweiz ihre Beziehung zu Russland sicherlich nicht mehr im Courant normal aufrechterhalten». So müsste zum Beispiel der Gesamtbundesrat die im Herbst geplante Russland-Reise von Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann «definitiv blockieren». 


Ein Artikel der Schweiz am Sonntag, Othmar von Matt

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