Im Sog des Wohlstands

Da Süddeutsche Zeitung l Weil sie zu Hause kaum noch Jobs finden, arbeiten immer mehr Italiener jenseits der Grenze im Tessin. Dort besetzen sie zunehmend höher qualifizierte Stellen – und die regierenden Rechtspopulisten versuchen, die Pendler zu bremsen. Ein Tag an der Grenze verrät viel über die Südschweiz, die sonst so oft vergessen wird.

Chiasso – Um fünf Uhr morgens ist die Welt am südlichsten Punkt der Schweiz noch in Ordnung. Die Schlange der Autos, die von Italien in den Norden fahren, wird immer länger, kleine, knatternde Fiats schieben sich an den beiden Grenzwäch- tern in blauer Uniform vorbei. Jeder Fah- rer wird aufmerksam gemustert. Fällt den Beamten etwas auf, ein neues Gesicht auf der Rückbank, ein Kennzeichen, das sie noch nie gesehen haben, heißt es: anhal- ten, Papiere vorlegen. Während die Namen durch die Datenbank laufen, werden SMS verschickt. „Mit dem neuen Wagen unter- wegs, direkt angehalten worden. Sind in 10 Minuten da.“ Falls es länger dauere, habe man ein Formular für die Arbeitgeber, sagt Davide Bassi, Sprecher der Tessiner Grenz- wache. „Wenn jemand zum Beispiel 45 Mi- nuten hier warten muss, weil wir sein gan- zes Auto kontrollieren, braucht er das.“
Ein Grenzübergang mitten in Europa, 13 000 Fahrzeuge im täglichen Durch- schnitt, allein in Chiasso, einem ruhigen Städtchen ganz im Süden der Schweiz. An diesem Montag im September sind es noch einmal deutlich mehr. Montags, sagt Bassi, kommen auch all jene, die werktags in der Schweiz wohnen und erst am Freitag zu- rückkehren.
Und während die Grenzen in der Umge- bung offen sind, beschäftigen die restrikti- ven Kontrollen der Schweizer Grenzwache inzwischen auch die Europäische Union (EU). Immer wieder wurde der Schweiz vor- geworfen, sich nicht an das Schengen-Ab- kommen zu halten und die Grenzen zu scharf zu bewachen.

Er verdiene in der Schweiz dreimal so viel wie in Italien, erzählt ein Motorradfahrer

300 000 Grenzgänger arbeiteten im zweiten Quartal 2015 in der Schweiz, 70 000 von ihnen sind Italiener. Vor drei Jahren waren es noch 61 000. Jeder vierte Erwerbstätige im Kanton Tessin kommt aus dem südlichen Nachbarland, wo die Ar- beitslosigkeit bei gut 12 Prozent liegt. Im Tessin betrug die Quote im August 3,4 Pro- zent. Seit Jahrzehnten sind die Grenzgän- ger das bestimmende Thema in dem klei- nen Kanton, auch jetzt, vor den National- ratswahlen im Oktober, wird mit ihnen Po- litik gemacht.
Die rechtspopulistische Lega dei Ticine- si ist mit 28 Prozent Wähleranteil stärkste Kraft in der Kantonsregierung. Die Grenze zu Italien ist ihr wichtigstes Thema.
Deutsche, Franzosen und Italiener kom- men vor allem aus einem Grund zum Arbei- ten in die Schweiz: „Ich verdiene hier drei- mal so viel wie in Italien“, sagt ein etwa 40-jähriger Motorradfahrer, während ein sei es wert. Er hat eine kleine Tochter und eine Frau, auch sie sucht inzwischen nach einer Stelle in der Schweiz. Der Motorrad- fahrer hat studiert, Ingenieurwesen. Er spricht englisch, französisch, italienisch, ein paar Worte deutsch. So bald wie mög- lich möchte er mit Frau und Kind ins Tes- sin ziehen. Nicht nur das Gehalt, auch die beruflichen Chancen seiner Tochter seien dort besser.
„Schauen Sie mal auf die Uhr“, sagt Grenzwächter Davide Bassi. Kurz vor halb sieben. „Ganz früh am Morgen kommen diejenigen, die auf dem Bau arbeiten. Da sieht man kleine Autos, einige Fahrgemein- schaften. Jetzt ist das schon ganz anders.“ Bassi deutet auf die Fahrzeuge. Statt rosti- gen Kleinwagen rollen mittelgroße Kom- bis mit bunten Bildern an den Scheiben vor- bei. Sponge Bob Schwammkopf, Mickey Mouse, die Simpsons, Kindersitze. „Da hat sich viel verändert in den letzten zwanzig Jahren“, sagt Bassi. Früher seien die Italie- ner fast nur in einfachen Berufen beschäf- tigt gewesen, meistens auf Baustellen. „Sie haben diesen Kanton aufgebaut. Straßen, Gebäude, Brücken und so weiter.“ Dass sie nun auch in Banken, Versicherungen und Ingenieursbüros arbeiten, ist für Bassi ei- ne normale Entwicklung.
Mit gerade 350 000 Einwohnern ist das Tessin eine Insel – der kleine italienisch- sprachige Kanton der Schweiz, der immer wieder vergessen wird. Hier gelten andere Regeln als im Rest der Schweiz. Erst im Ju- ni hat eine Initiative das wieder gezeigt: 55 Prozent der Tessiner votierten für den von den Grünen vorgeschlagenen Mindest- lohn – auf Bundesebene war ein ähnlicher Vorschlag 2014 gescheitert.

Auch an einer anderen Gesetzes-Änderung sind die Tessiner maßgeblich betei- ligt. Als die Schweizer im Februar 2014 über die sogenannte Masseneinwande- rungsinitiative abstimmten, fiel das Ergeb- nis knapp aus: 50, 3 Prozent der Schweizer Bürger stimmten für eine Steuerung der Einwanderung mittels Kontingenten. Das Tessin, wo fast 70 Prozent „Ja“ ankreuz- ten, spielte dabei eine entscheidende Rol- le. Seither verhandelt der Schweizer Bun- desrat mit Brüssel, wie es das Votum seiner Bürger mit den bilateralen Verträgen in Einklang bringen könnte. Eine Lösung ist nicht in Sicht.
Die Angst, den Arbeitsplatz an junge, gut ausgebildete und günstige Ausländer zu verlieren, ist nicht auf das Tessin be- schränkt. In der Schweiz gilt Kündigungs- freiheit, Arbeitnehmer können ohne Anga- be von Gründen gekündigt werden. Gera- de ältere Arbeitskräfte mit hohen Lohnan- sprüchen leiden darunter, auch in der Deutschschweiz und im französischspra- chigen Westen des Landes.
Dennoch ist die Situation im Tessin eine andere: Zwischen der Schweiz und Italien ist das Lohngefälle besonders groß – und im Landesvergleich zur Spitzengruppe – das verfügbare Einkommen eines Haus- halts liegt deutlich unter dem schweizeri- schen Durchschnitt.
Hierfür die Grenzgänger verantwortlich zu machen, die im Durchschnitt etwa 1000 Franken im Monat weniger verdienen als ein einheimischer Arbeiter und noch im- mer einen Großteil der wenig attraktiven Arbeiten erledigen, ist einfach. „Unsere Wirtschaft braucht die Grenzgänger“, sagt Davide Bassi. Ohne die Arbeitskräfte aus Italien müsste man Fabriken schließen und im Ausland produzieren. Das sagen viele Tessiner Firmenchefs ganz offen.

Die Jugendarbeitslosigkeit im Tessin ist verglichen mit Italien auf einem traumhaften Niveau

Auch Norman Gobbi, Tessiner Regierungspräsident und Mitglied der Lega dei Ticinesi, sagt, der Kanton brauche die Grenzgänger. Allerdings deutlich weniger als bisher: Die Zahl müsse „unter 40 000 sinken“, findet der Politiker.
Am liebsten sieht Gobbi die Italiener of- fenbar in jenen Berufen, die sie seit Jahr- zehnten im Tessin verrichten – als Bauar- beiter, Kellner, Putzkräfte. Ihm missfällt die „unfaire Konkurrenz“, die Italiener den Schweizern in anderen Sektoren machten.
„Heute arbeiten Italiener in Banken und Anwaltsbüros, sie kommen als Informati- ker, Ingenieure und Treuhänder hierher“, sagt Gobbi. Für die Tessiner, die „traditio- nell in diesen Berufen arbeiten“ sei das ei- ne unzumutbare Situation. „Unsere Jungen finden keine Arbeit mehr, unsere Älte- ren werden aussortiert“, klagt Gobbi.
Außerdem machten die billigen Arbeits- kräfte Druck auf die Löhne. Norman Gobbi sagt: „Wer an der ETH Zürich zum Ingeni- eur ausgebildet wurde, kann mit 6000 Franken Einstiegslohn rechnen. Wer dage- gen in Mailand Ingenieurswissenschaft studiert hat, geht vielleicht mit 1200 Euro nach Hause.“
Von so großen Unterschieden sprechen sonst nur wenige. Doch dass Italiener in der Schweiz zu Niedriglöhnen angestellt werden, dafür gibt es genug Beispiele.
Sie illustrieren auch, wie groß die Unter- schiede zwischen Deutschland und der Schweiz sind: Neun Franken (etwa 8,30 Eu- ro) Stundenlohn für Hilfsarbeiter, 2000 Franken (etwa 1800 Euro) Monatslohn für Informatiker. Solche Schlagzeilen sorgen im Tessin für größte Aufregung. Denn klar ist auch: Wer so wenig verdient, kann kaum in der Schweiz leben.
Die rechtspopulistische Lega glaubt, der Tessiner Arbeitsmarkt brauche mehr Schutz, einheimische Arbeitskräfte müss- ten gegenüber Ausländern bevorzugt wer- den. Das ist rechtlich nicht so einfach, wie dem Regierungspräsidenten klar sein dürf- te: Seit April verlangt der Kanton von Grenzgängern, die im Italienischen Fronta- lieri genannt werden, einen Strafregister- auszug – und hat damit eine diplomati- sche Krise ausgelöst.
Die „aus Sicherheitsgründen“ getroffe- ne Maßnahme sei nichts anderes als eine weitere Demütigung der italienischen Ar- beiter, offene Diskriminierung und ein Ver- stoß gegen das zwischen der EU und der Schweiz vereinbarte Personenfreizügig- keitsabkommen, befand man im Außenmi- nisterium in Rom. Der Schweizer Botschaf- ter wurde einbestellt.

Auch in Bern war man von der Tessiner Spezial-Maßnahme alles andere als begeis- tert – sie sei ein großes Hindernis in den Steuerverhandlungen mit Italien, hieß es aus dem Finanzministerium. Außerdem sei es ein Fakt, dass damit gegen internatio- nale Verträge verstoßen werde. Doch ob- wohl die Regierung in Bern die Position Ita- liens zu stützen schien, stieß sie im Tessin nicht auf Gehör: Regierungspräsident Nor- man Gobbi erklärte, man werde an dem Strafregisterauszug festhalten. Erst nach monatelangen Verhandlungen gestand er kürzlich ein, die Praxis müsse möglicher- weise anders gestaltet werden.
Die Auseinandersetzung zwischen Bern und Bellinzona sorgte für Schlagzeilen, an die sich die Schweizer inzwischen gewöhnt haben: „Südlichen Unmut besänftigen“, „Tessin reagiert auf Druck“, „Immer wieder Ärger mit dem Tessin.“
Am Grenzübergang in Chiasso zeigt die Uhr fast halb acht. Firmenwagen, Limousi- nen, überdimensionierte SUVs rollen an dem Schild mit der Aufschrift „Frontalie- ri“ vorbei, dazu Fahrradfahrer und Fußgän- ger, auf dem Weg zum nahegelegenen Bahnhof. „Segretario“, Sekretärin, antworten fast alle Frauen, die zu Fuß die Grenze überque- ren, auch Krankenschwestern und Buch- halterinnen sind darunter. Kaum eine ist äl- ter als 35, alle haben es eilig. Der Weg zur Arbeit ist umständlich. Mit dem Bus zur Grenze, dann zu Fuß in die Schweiz, zum Bahnhof, zwanzig Minuten Zugfahrt, dann wieder ein Fußmarsch. Jeder, der die Gren- ze an diesem Montag überquert, scheint zwischen 25 und 40 Jahre alt zu sein. Nicht wenige sprechen akzentfrei englisch, jeder Dritte nutzt den Weg zum Bahnhof, um Te- lefonate zu erledigen.
„Natürlich sind es meistens die Jungen, die zu uns kommen“, sagt Grenzwächter Bassi. Zum einen seien sie mobil und flexi- bel genug, um sich im Ausland zu bewer- ben und zu pendeln, zum anderen sei die Si- tuation in Italien katastrophal. „Die Ju- gendarbeitslosigkeit dort beträgt mehr als 40 Prozent.“
Im Tessin liegt die Jugendarbeitslosig- keit bei knapp sechs Prozent. Im Schweizer Vergleich ein hoher Wert. Im Vergleich mit Italien: paradiesisch.
Dass die Tessiner sich lieber mit der Deutschschweiz vergleichen, ist klar. Man sei „diszipliniert und stur wie alle Schwei- zer“, sagte Norman Gobbi Anfang der Wo- che in der Basler Zeitung.
Diese gestand den Tessinern in dem Arti- kel zwar zu, „in der Sache genauso pingelig und korrekt wie die Deutschschweizer“ zu sein, allerdings erinnere dann doch einiges an Italien, fand das Blatt: Das Wasser im Herrliberg bei Zürich beteiligt ist, sieht das Tessin als Vorbild für die Schweiz. „Selbst ist der Tessiner“ schreiben die Basler mit Bewunderung. Gobbi und seine Mitstrei- ter wüssten sich wenigstens noch zu weh- ren, gegen die ständige Einmischung aus Brüssel und Bern.
Wer auf das Tessin blickt, sieht wie un- ter dem Brennglas, vor welchen Herausfor- derungen die Schweiz im Verhältnis zu Eu- ropa steht: Obwohl sich Sprache und Kul- tur auf den ersten Blick nicht wesentlich unterscheiden, bringen Währung, Preise und Lohn-Niveaus die Menschen auf bei- den Seiten der Grenze auseinander. Die Schweiz wird immer mehr zur Insel der Wohlhabenden – und übt als solche gewal- tige Sogwirkung aus. Gleichzeitig braucht das Land die ausländischen Arbeitskräfte– jung, gut ausgebildet, moderate Gehalts- vorstellungen – dringend. Abschottung ist keine Lösung, weder für das Tessin, noch für den Rest der Schweiz. Und: Schon ge- ringfügige Veränderungen haben in der kleinen Schweiz große Wirkung.

Grenzwächter kontrollieren jeden Zug aus Italien nach Menschen ohne Papiere

Am Grenzübergang zwischen der italie- nischen Stadt Como und Chiasso gibt es an diesem Montagmorgen auch einige, die versuchen möglichst ungesehen über die Grenze zu kommen. Immer wieder halten die Grenzwächter weiße Lieferwagen mit abgedunkelten Scheiben an. Schmuggler, Dealer und Menschenhändler herauszufi- schen, ist das Ziel der Grenzbeamten. „Da- durch, dass die Grenzwächter jeden Mor- gen hier stehen, kennen sie die Gesichter und Fahrzeuge der Pendler sehr gut – falls etwas anders ist, fällt ihnen das auf“, sagt Davide Bassi.
Wenn ein Wagen angehalten wird, hält er sich möglichst fern: „Falls sie tatsäch- lich etwas zu verbergen haben, sind diese Leute nervös und unberechenbar. Deshalb sollte man ihnen nicht zu nah kommen.“
An diesem Morgen sind es nicht wenige Autos mit Kennzeichen vom Balkan, die an- gehalten werden. Obwohl die Schweiz für 2015 nur mit etwa 30 000 Asylbewerbern rechnet, sind es auch hier mehr geworden, jeden Monat sollen etwa 1800 Flüchtlinge über Italien in die Schweiz kommen. „Per- sonen ohne Papiere oder mit gefälschten Dokumenten greifen wir jeden Tag auf“, sagt Bassi, die meisten davon am Bahnhof. Wer von Italien in Richtung Norden fährt, sollte in Chiasso einige Minuten Wartezeit einplanen: Die Grenzwächter kontrollie- ren jeden Zug nach Reisenden ohne Papie- re. Gruppen von Eritreern und Somaliern warten an diesem Montag auf dem Bahn- steig. Auch bei diesem Thema wird das Tes- sin von Rechtspopulisten als Paradebeispiel verwendet.
Es ist halb neun, die Sonne scheint. In Chiasso passiert etwas Ungewöhnliches. Ein Fiat Panda mit Tessiner Kennzeichen fährt langsam davon, in Richtung Italien.

von charlotte theile, 12.09.2015 / leggi il PDF: SüddeutscheZeitung_Chiasso_150912

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