Gotthard-Maut: Tunnelgebühr ist diskriminierend

Gotthard-Maut: Tunnelgebühr ist diskriminierend

Da NZZ.ch l Wenn eine Gebühr ein probates Mittel zur Bekämpfung von Staus sein soll: Warum diskutiert man sie nur für den Gotthard und nicht für die Agglomerationen in Zürich, Basel, Bern und Genf? Gastkommentarvon Norman Gobbi

Die Abschaffung der Strassenzölle war eines der dringlichsten Anliegen der Gründungsväter des Bundesstaates. Es mutet daher ziemlich anachronistisch an, dass nun ausgerechnet der Think-Tank Avenir Suisse Konzepte, die einst mit gutem Grund auf der Müllhalde der Geschichte entsorgt wurden, als vermeintliches Ei des Kolumbus anpreist.

Worum geht es? Daniel Müller-Jentsch, Ökonom und Projektleiter bei Avenir Suisse, plädierte in der NZZ für eine Maut am Gotthard, um die Sanierung der bestehenden und den Bau der zweiten Röhre zu finanzieren. Sein Verweis auf das Verursacherprinzip («Die zweite Röhre sollte von den Nutzern finanziert werden, nicht von der Allgemeinheit») scheint auf den ersten Blick einleuchtend, erweist sich aber bei näherem Betrachten als Scheinlösung und Respektlosigkeit gegenüber dem Tessin.

Längster Strassentunnel als Argument?
Begründet wird die Maut-Forderung damit, dass der Gotthard auf der Haupttransitroute liegt. Das ist zweifellos richtig. Doch dasselbe gilt auch für den Seelisberg-, den Sonnenberg- oder den Belchentunnel. Dieser wird derzeit saniert. Dass die Gelder für diese Sanierungsröhre aus der Bundeskasse stammen, hat indes keinen Ökonomen auf den Plan gerufen. Für die Sanierungsröhre am Gotthard hingegen ist eine Maut laut Avenir Suisse angemessen, weil es sich um «den mit Abstand längsten Strassentunnel des Landes» handelt.

Seit wann ist die Länge eines Autobahn-Teilstücks massgebend? Und warum soll man nicht auch eine Gebühr bezahlen, wenn man den 6,6 Kilometer langen San-Bernardino-Tunnel durchquert, der ebenfalls auf der Nord-Süd-Achse liegt? Mit der Superlativ-Logik könnte man auch für eine Fahrt über die längste Brücke, den höchsten Viadukt oder die kurvenreichste, geradlinigste, schönste, schnellste oder ödeste Strecke des Landes eine Maut verlangen – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Die Gotthard-Maut würde Avenir Suisse mit je einer Erfassungsstation an den beiden Tunnelportalen erheben. Damit, so die These, würden auch die Staus reduziert. Wie naiv diese Annahme ist, zeigt ein Blick auf die italienischen Autobahnen: Zahlstellen wie jene in Como Grandate, fünf Kilometer südlich von Chiasso, sind notorische Staugeneratoren. Wenn eine Gebühr angeblich ein derart probates Mittel zur Bekämpfung von Staus darstellt, so fragt man sich, weshalb man den täglichen Kolonnen und Verkehrsstockungen rund um die Agglomerationen von Zürich, Basel, Bern und Genf damit nicht schon längst ein Ende bereitet hat!

«Grosszügigen Vielfahrerrabatte»
Aus Tessiner Sicht besonders verstörend ist die Tatsache, dass Avenir Suisse rein ökonomisch argumentiert – die Interessen der Tessiner Wirtschaft aber überhaupt nicht in die Rechnung mit einbezieht. Ist man sich an der Rotbuchstrasse in Zürich eigentlich bewusst, was eine Gotthard-Maut für die stark vernetzte Wirtschaft auf der Alpensüdseite bedeuten würde, die auf Zulieferungen aus dem Norden angewiesen ist? Die «grosszügigen Vielfahrerrabatte», die Avenir Suisse uns Tessinern gewähren würde, tönen derart paternalistisch und arrogant, dass damit im Tessin unweigerlich der kollektive Anti-Landvögte-Reflex aktiviert wird.

Aus Tessiner Sicht besonders verstörend ist die Tatsache, dass Avenir Suisse rein ökonomisch argumentiert – die Interessen der Tessiner Wirtschaft aber überhaupt nicht in die Rechnung mit einbezieht.
Womit wir auf der staatspolitischen Ebene angelangt wären, die Avenir Suisse in ihren Betrachtungen gänzlich ausgeblendet hat. Das Tessin hat wie jeder andere Kanton ein Anrecht auf eine gute Anbindung an den Rest des Landes und darf nicht mit unseligen Gebühren diskriminiert werden, die ökonomisch nicht gerechtfertigt sind, geschweige denn politisch. Die Schweiz definiert sich durch die Respektierung ihrer tausend subtilen Gleichgewichte und Minderheiten. Das ist die helvetische Besonderheit, die auch Ökonomen in ihre Analysen mit einbeziehen sollten – vor allem dann, wenn sie sich wie Avenir Suisse auf die Fahne schreiben, Denkanstösse zu geben, die auch kommenden Generationen Chancen bieten.

Norman Gobbi ist Regierungspräsident des Kantons Tessin

Das gewohnte Ferienbild: Stau vor dem Gotthardtunnel zwischen Göschenen und Erstfeld. (Bild: Urs Flüeler /Keystone)

http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/gotthard-maut-tunnelgebuehr-ist-diskriminierend-ld.12143

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