«Bern war oft zu spät»

«Bern war oft zu spät»

Während der Corona-Krise fühlte sich das Tessin vom Bund im Stich gelassen. «Es war schwierig mit Bern», sagt Regierungspräsident Norman Gobbi im BLICK-Interview. Ein Vorwurf: Der Bundesrat habe nicht immer richtig kommuniziert.
Das Tessin, eine Corona-Risiko-Region? Das liess Norman Gobbi (43) nicht auf sich sitzen. Auf Druck des Tessiner Regierungspräsidenten schickte das Aussendepartement am Donnerstag eine Protestnote nach Belgien. Der Benelux-Staat hatte den Südkanton – als einzige Region in der Schweiz – auf eine Liste von Gebieten gesetzt, bei denen eine Quarantänepflicht für Rückkehrer gilt. Völlig ungerechtfertigt, fand Gobbi. Der Protest zeigte Wirkung. Belgien liess von der Quarantänepflicht für Tessin-Reisende ab. Nicht der einzige Aufreger, den der Lega-Politiker zu verkraften hatte in letzter Zeit. Gleichwohl ist Gobbi gut gelaunt, als er die BLICK-Journalisten bei schönstem Ferienwetter am Tessiner Regierungssitz in Bellinzona empfängt. Doch: Eine schwierige Zeit für die Bewohner seines Kantons ist zwar vorüber, aber längst nicht vergessen. Zu stark war das Tessin von der ersten Welle der Pandemie betroffen.

Herr Gobbi, wie war das, als Bundesbern die Hilferufe aus dem Tessin in den Wind schlug und Ihnen verbieten wollte, strengere Massnahmen zu ergreifen als der Bund?
Wir Tessiner sind es gewohnt, von Bern nicht immer verstanden zu werden. Wenn wir etwas anders machen, sind wir gleich die Exoten. Bei Corona aber waren wir Vorreiter, schweizweit hat der Bundesrat viele unserer Massnahmen nachvollzogen. So hat die Schweiz die erste Welle besser überstanden als befürchtet.

Bern rügte – und kopierte Sie dann. Was bleibt da für ein Eindruck vom Bundesrat?
Bern war oft zu spät. Während aber in unserer direkten Nachbarschaft die Lombardei mit hohen Fallzahlen und vielen Verstorbenen zu kämpfen hatte, standen die Romandie und die Deutschschweiz unter dem Einfluss von Frankreich und Deutschland, die anfangs kaum Fälle hatten. Der Bundesrat muss die ganze Schweiz im Blick haben. Der Druck war nicht nur aus Bellinzona gross, sondern auch aus Rom, Berlin und Paris.

Mit Ignazio Cassis gibt es einen Tessiner im Bundesrat. Fühlten Sie sich von ihm zu wenig vertreten?
Cassis ist sogar Mediziner und unser ehemaliger Kantonsarzt! Ich weiss nicht, was für Diskussionen im Bundesrat geführt wurden. Ich kann nur sagen: Es war zu Beginn schwierig mit Bern. Am Schluss fanden wir aber Gehör. Und die Landesregierung hat dann viel für den Schutz der Arbeitnehmer und Arbeitgeber getan. Dank der Krisenfenster konnten wir zudem weitergehende Massnahmen ergreifen.

Die Krisenfenster hat der Bundesrat doch nur eingeführt, um sein Gesicht zu wahren. Das Tessin hatte längst eigenmächtig gehandelt.
Das war die Anerkennung der Tessiner Besonderheit in der ausserordentlichen Lage.

Sie wollen das nicht ausführen?
Ich möchte nur sagen, dass die Erfahrungen aus der Krise für mich zeigen, dass das Epidemiengesetz nicht immer flächendeckend umgesetzt werden sollte. Naturkatastrophen und technische Unglücke sind selten ein landesweites Problem. Sie verursachen begrenzte Schwierigkeiten, die regional angegangen werden müssen. Das gehört zu den Lehren aus der Krise.

Was hat Sie die Krise noch gelehrt?
Dass wir alle zu wenig gut vorbereitet waren. Nicht nur der Bund und die Kantone hatten in ihrer Planung nicht genügend Schutzmaterial sichergestellt für sich selbst sowie die Spitäler, Altersheime und andere Einrichtungen. Wir alle hatten nicht die 50 Schutzmasken zu Hause, die wir laut Notfall-Vorsorgeplanung auf Lager haben sollten.

Sie auch nicht?
Nein, aber jetzt schon. Dafür hat meine Frau gesorgt.

Die Corona-Krise ist noch nicht ausgestanden. Hat der Bund die Massnahmen zu schnell gelockert? Selbst die Clubs waren ja völlig überrascht vom Tempo des Bundesrats.
Alle waren überrascht. Ja, die Öffnung der Clubs kam zu früh. Viele Kantone mussten den Entscheid korrigieren.

Sollte der Bund die Clubs wieder schliessen?
Wir haben ja geahnt, dass es schwierig wird. Die kantonalen Gesundheitsdirektoren haben darum rasch eingegriffen. Auch wegen der Superspreader-Fälle natürlich. Wir können das jetzt aber situativ machen. In Appenzell muss man nicht gleich dieselben Massnahmen ergreifen wie in Zürich.

Der Bundesrat lockert – die Konsequenzen müssen die Kantone tragen. Nervt Sie das?
Nein, das war schliesslich schon immer so. Der Bundesrat erlässt die Regeln, die Kantone setzen diese um und tragen die Folgen. In der Krise kam allerdings erschwerend hinzu, dass der Bundesrat nicht immer unverzüglich kommuniziert hat.

Was meinen Sie damit?
Lassen Sie es mich so sagen: Es gab Beschlüsse, von denen wir erst kurz vor der Medienkonferenz erfuhren. Einige Bundesräte teilten den Journalisten Informationen mit, die nicht immer mit den erläuternden Berichten übereinstimmten. Nach der Medienkonferenz läuteten bei uns die Telefone Sturm.

Hunderttausende haben auf dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle jede Medienkonferenz des Bundesrats verfolgt. Sie auch?
Ja, auch für uns waren diese wichtig. Ich glaube, diese Konferenzen und die Krise überhaupt führen dazu, dass wir den Wert des Staats wieder zu schätzen wissen. Die Behörden wurden plötzlich ganz anders wahrgenommen. Aber auch die Medien. So wie sie die Probleme benannten und Massnahmen hinterfragten, haben sie ihre Rolle gut wahrgenommen.

Für Schlagzeilen hat auch gesorgt, als das Tessin ein Einkaufsverbot für Senioren erlassen hat. Wegen der heftigen Kritik krebsten Sie dann etwas zurück. War es ein Fehler?
Nein. Die Absicht war, die über 65-Jährigen zu schützen! Die Regelung kam zwar bei der Bevölkerung zu Beginn sehr schlecht an. Aber später hat sich gezeigt, dass es in dieser Zeit tatsächlich zu weniger Corona-Fällen kam. Ich stehe deshalb weiterhin hinter dem Entscheid. Bestimmte Massnahmen für Risikogruppen sind sinnvoll. Ein zweiter Lockdown wäre für uns untragbar. Menschlich, wirtschaftlich und sozial.

Was tun Sie, um das zu verhindern?
Jetzt ist es wichtig, dass regional und lokal die jeweils angemessenen Massnahmen getroffen werden. Wir haben in Lugano beispielsweise das Problem, dass viele Partygänger aus der Lombardei zu uns kommen, weil es bei uns in den Clubs keine Maskenpflicht gibt. Das beobachten wir aufmerksam und auch mit Sorge.

Ihre Grossmutter wie auch Ihr Grossvater feierten im Frühling ihren 90. Geburtstag. Hatten Sie Angst um sie?
Angst hatte ich nie. Meine Grossmama lebt in einem Altersheim in Lugano. Sie hat uns an ihrem Geburtstag hinter dem Fenster gegrüsst und ein Stück Torte gegessen. Mein Grossvater wollte aber immer noch selbst einkaufen gehen. Da musste ich sagen: Basta, du bleibst jetzt zu Hause!

Sie sind Ambrì-Piotta-Fan. Es gab im Tessin schon früh keine Eishockey-Matches mit Zuschauern mehr: Da muss Ihr Herz geblutet haben.
Ambrì-Piotta hat bei den Geisterspielen zwei Matches gewonnen, darunter ein Derby gegen Lugano. Von dem her war es nicht so schlimm! (Lacht.) Aber klar, es fehlte mir, ins Stadion gehen zu können. Wir haben als erster Kanton beschlossen, dass die Spiele ohne Publikum stattfinden müssen. Das war erneut ein schwieriger Vorreiterentscheid.

In der Krise mussten Sie umsetzen, was der Bundesrat anordnete. Haben Sie es in diesen Momenten besonders bereut, 2015 nicht Bundesrat geworden zu sein?
Nein, das war für mich nie ein Gedanke. Ich war hier an der Front voll in Action. Ich sah meine Rolle als Stimme des Tessins in Bern. Und vor allem hatte ich auch meine Rolle als Präsident der Regierungskonferenz für Militär, Zivilschutz und Feuerwehr wahrzunehmen.

Vielleicht ergibt sich ja noch einmal die Möglichkeit für den Sprung in die Regierung. Eine Option?
Es ist wie ein Zug, der vielleicht zwei Mal im Leben an einem vorbeifährt. Einmal ist er schon vorbeigefahren. Ob er es ein zweites Mal tut? Ich weiss es nicht. Ich konzentriere mich auf das Hier und Jetzt. Aber ich schliesse nichts aus.

 

Der Fast-Bundesrat

Lega-Politiker Norman Gobbi (43) präsidiert seit Mai die Tessiner Regierung. Der Vorsteher des Departements für Inneres, Justiz und Polizei stieg mit 19 Jahren in die Politik ein. 2010 wurde er in den Nationalrat gewählt, verabschiedete sich aber wegen seiner Wahl in den Staatsrat bereits nach einem Jahr wieder aus Bern. 2015 nominierte ihn die SVP neben Thomas Aeschi (41) und Guy Parmelin (60) auf ihrem Dreierticket für die Bundesratswahlen. «Göb», wie Gobbi im Tessiner Dialekt genannt wird, unterlag bekanntlich gegen Parmelin. Der studierte Kommunikationswissenschaftler und Marketingspezialist Gobbi war bis zu seiner Wahl in die Kantonsregierung Verwaltungsrat des Eishockeyklubs HC Ambrì-Piotta. Er lebt mit seiner Frau Elena und den Kindern Gaia (9) und William (8) in Nante bei Airolo TI.