Mit Vollgas gegen Polizisten

Mit Vollgas gegen Polizisten

Auch im Tessin steigt die Zahl der Gewalttaten gegen Beamte. Staatsrat, Stadträte und Polizeigewerkschaft fordern eine grundsätzlich härtere Bestrafung der Täter.

Es ist Anfang März in Lugano-Paradiso: Zwei Polizisten kontrollieren abends ein Fahrzeug. Dieses steht im Parkverbot. Der Besitzer kommt hinzu, die Beamten wollen eine Personenkontrolle durchführen. Daraufhin beschimpft sie der 26-Jährige, steigt ins Auto, setzt zurück – um plötzlich mit Vollgas auf die beiden Polizisten zuzusteuern. Der eine Beamte zieht sich mittelschwere Verletzungen an Beinen und Schultern zu, der andere kann rechtzeitig zur Seite springen. Der Lenker wird etwas später von anderen Polizisten angehalten und verhaftet.

Ähnliches geschah eine Woche zuvor in Brissago. Ein Taxifahrer wollte sich in den frühen Morgenstunden durch Flucht einer Kontrolle entziehen. Dabei geriet ein Polizeibeamter unter das Auto, wurde 30 Meter mitgeschleift und trug dennoch nur eher leichte Verletzungen davon. Der Taxifahrer aus Locarno raste rücksichtslos davon, weil er über keine Konzession für die Region verfügte. Er wurde nach einer Verfolgungsjagd gestoppt und wegen Strassen-Piraterie und Gewalt gegen Beamte verzeigt.

Die beiden Fälle lassen aufhorchen. Es handle sich um Gewaltakte im Rahmen banaler Vorgehen, die mit Problemen des Strassenverkehrs zu tun hätten, sagt Andrea Pomponio, Ko-Präsident der Sektion Polizei der Gewerkschaft VPOD. Laut seinen Worten ist dies beunruhigend, weil sich die tätlichen Aggressionen nicht mehr auf Sondersituationen wie Handgemenge oder Sportanlässe beschränken. In Pomponios Augen ein deutlicher Beweis für die «Eskalation» der Gewalt gegen Polizisten.

Immer banalere Gründe

Klar ist auch der Standpunkt des Verbandes Schweizerischer Polizeibeamter (VSPB): Die Situation könne schon bei normalen Verkehrskontrollen heftig werden, sagt Generalsekretär Max Hofmann. Die zwei Tessiner Fälle seien keine Seltenheit, seit Jahren registriere man landesweit steigende Zahlen, was massive Drohungen und Gewalt gegen Polizisten angehe. Im Jahr 2000 wurden 774 solcher Fälle verzeichnet, letztes Jahr waren es 2776 – dies stellt einen Anstieg von 259 Prozent dar. «Das Problem ist explodiert», so Hofmann. Sein Verband fordert bessere Prävention und Massnahmen der Abschreckung. Für Pomponio gehört auch härtere Bestrafung zur Prävention: Ihm schweben statt Bussgelder unbedingte Haftstrafen vor. Diese Forderungen stossen beim Chef des Tessiner Justiz- und Polizeidepartements auf offene Ohren: Die Wiedereinführung kurzer Haftstrafen wäre ein wichtiges erstes Abschreckungsmittel, erklärt Norman Gobbi (Lega). Er sieht die Zahl Gewaltakte nicht nur gegen Polizisten, sondern generell gegen Beamte im Steigen begriffen. Dies interpretiert Gobbi als Ausdruck einer gewissen gesellschaftlichen Verwahrlosung und des fehlenden Respekts gegenüber dem Staat. Daher sollte das Image des Polizisten-Berufes gezielt «aufgewertet» werden.

Gobbi unterstützt die Forderungen des Polizisten-Verbands. Er erinnert an die Petition des VSPB von 2009 zuhanden von Bundesrat und Parlament, die eine härtere Bestrafung fordert und trotz positiven Reaktionen noch immer der definitiven Behandlung seitens der Parlamentskommissionen harrt. Zudem reichte im Januar 2014 das Tessin eine kantonale Initiative ein: Sie gesellt sich zu jenen der Kantone Waadt und Genf. Das nationale Parlament will diese Vorlagen, die eine entsprechende Gesetzesverschärfung verlangen, heuer behandeln. Über die Notwendigkeit politischer Sofortmassnahmen gehen die Meinungen allerdings auseinander. – Auch Luganos Polizeivorstand, der freisinnige Stadtrat Michele Bertini, mag keine Milde mehr walten lassen. Gemäss dem «Corriere del Ticino» hatte er kurz vor Weihnachten gefordert, die behördliche «Gutwilligkeit» gegenüber Gewalttätern zu beenden. Dies, nachdem an drei Wochenenden hintereinander in Lugano Polizeibeamte tätlich angegriffen worden waren – ein eher städtisches Phänomen. Bertini erinnerte auch an die Prügel-Aktion gegen zwei Polizisten während des Eishockeyspiels Lugano gegen Ambri-Piotta im Herbst 2013 und jene während der Fasnacht 2014 in Montagnola. Es brauche nun eine gewisse Strenge, so Bertini. Derlei Vorfällen könne man nicht mehr mit normaler Prävention Einhalt gebieten.

Seelische Schäden

Pomponio und Hofmann erinnern auch an die psychischen Folgen bei den betroffenen Beamten. Laut ihren Worten gibt es Polizisten, die dauerhafte körperliche oder seelische Versehrungen davontragen und das Erlebte immer vor Augen haben. Auch Drohungen seien nicht zu unterschätzen, weil ein Beamter bereits dann ein Gefühl der Unsicherheit entwickeln kann. Und dieses findet seinen Widerhall im Berufs- wie auch Privatleben.

http://www.nzz.ch/schweiz/mit-vollgas-gegen-polizisten-1.18503536

Peter Jankovsky, Bellinzona 17.3.2015 (NZZ) – Bild: Gabriele Putzu / Keystone

Lascia un commento