Schnelle Grenzöffnung missfällt dem Tessin

Schnelle Grenzöffnung missfällt dem Tessin

Da www.nzz.ch
Italien will Anfang Juni seine Grenzen zur Schweiz öffnen – das Tessin reagiert darauf skeptisch. Die gesundheitlichen Bedenken überwiegen, mögliche Folgen für die Wirtschaft spielen kaum eine Rolle.

Nicht nur die Landesregierung, auch das Tessin ist überrascht: Italiens Ankündigung, am 3. Juni seine Grenzen zur Schweiz vollständig zu öffnen, stösst auf wenig Gegenliebe. «Wir stellen jetzt vor allem Überlegungen zum gesundheitlichen Schutz der Bevölkerung an», sagt der Tessiner Regierungspräsident Norman Gobbi (Lega). Denn schliesslich grenze der Südkanton an die beiden italienischen Regionen an, welche die schwersten Folgen im Zusammenhang mit dem Coronavirus hätten erdulden müssen.
Gobbi ist erstaunt über den Gesinnungswandel Italiens. Gemäss seinen Worten richteten italienische Politiker noch vor kurzem Appelle an die Schweiz und das Tessin, weil sie deren vorsichtige Öffnung als vorschnell empfanden. Und nun wolle man plötzlich selber die Grenzen öffnen: Das sei doch wohl ein übereilter Schritt, so Gobbi.

Das Risiko würde wieder steigen
Laut dem Tessiner Kantonsarzt Giogio Merlani ist die epidemiologische Situation in Norditalien noch wenig klar. Seiner Ansicht nach wird eine uneingeschränkte Grenzöffnung zu mehr Personenverkehr führen, der deutlich über den bisher zugelassenen Grenzgänger-Transit hinausgeht. Dies werde das Risiko erhöhen, dass das Coronavirus im Tessin wieder vermehrt auftrete.
Es könnte auch das Ende der allmählichen Normalisierung im Südkanton bedeuten. Dann müsste man wieder regional und international die Bewegungsfreiheit einschränken, meint Merlani. Und zwar in höchstem Masse, wie es eben in einem solchen Fall notwendig werde, was auch allgemein anerkannt sei.
Aber würde die Grenzöffnung die stark gebeutelte Tessiner Wirtschaft nicht etwas beleben? Der Volkswirtschaftsdirektor des Südkantons sieht keine unmittelbare Folgewirkung: Momentan sei der berufliche grenzüberschreitende Personenverkehr garantiert, erklärt der freisinnige Staatsrat Christian Vitta. In diesem Sinne betreffe die geplante Öffnung seitens Italiens die Tessiner Wirtschaft nicht direkt.
Auch für Vitta steht vor allem ein epidemiologisches Monitoring im Vordergrund. Der Chef des kantonalen Finanz- und Wirtschaftsdepartementes hofft darauf, dass sich der Bundesrat punkto Grenzöffnung mit Italien auf Leitlinien einigt, welche die Gefährdung durch das Coronavirus mit einschliessen. «Als Kantonsregierung haben wir die Durchführung von medizinischen Kontrollen an der Grenze verlangt – eine Massnahme, die bis heute nicht umgesetzt ist», hält Vitta fest.
Und was sagen Tessiner Wirtschaftsvertreter zur geplanten Grenzöffnung Italiens? Wichtig sei es, einen «normalen» Zustrom italienischer Grenzgänger garantieren zu können, erklärt beispielsweise Nicola Bagnovini, Direktor der Tessiner Sektion des Baumeisterverbandes. Gerade der regionale Bausektor sei seit vielen Jahren auf die «frontalieri» angewiesen. Anderseits hatte Bagnovini zu Beginn der Corona-Krise den schnellen und massiven Tessiner Lockdown befürwortet, um eine zweite Corona-Welle möglichst zu vermeiden, die der Wirtschaft langfristig noch stärker schaden könnte.
Daher wünscht sich Bagnovini, dass der Bundesrat bei den Verhandlungen mit Italien sowohl wirtschaftliche wie auch gesundheitliche Aspekte berücksichtigt. Man müsse jetzt alles tun, um eine Wiederholung des allgemeinen Notstands der letzten zwei Monate zu verhindern. Der Kampf gegen das Coronavirus müsse weitergehen.

Firmenprobleme liegen anderswo
Der Bundesrat habe während der Corona-Krise immer gut gearbeitet und bereits sehr viel getan. Dies sagt Beatrice Fasana, Geschäftsführerin einer Tessiner Firma, die Lebensmittel herstellt. Nun glaubt Fasana, die entsprechenden Sicherheitsmassnahmen und die Garantie risikofreien Arbeitens lägen in der Verantwortung der einzelnen Tessiner Firmen. Hilfe bieten könne der Staat bzw. der Kanton, indem er vor allem kleinen Firmen in allen Wirtschaftszweigen Geldbeträge à fonds perdu zuspreche und so einen Neustart ermögliche.
Darüber hinaus scheint für Fasana das Problem der Immobilien-Mietzinse für Firmen im Tessin ein sehr ernstes zu sein. Auch die Eigentümer der Liegenschaften sollten ihren Beitrag leisten, um die Situation für die Firmen zu entschärfen – was derzeit nicht geschehe. Fasanas Firma selber geht es gut: Wegen der Systemrelevanz der Lebensmittelbranche war die Landesgrenze für ihre «frontalieri» immer durchlässig. Daher würde eine reguläre Öffnung der italienischen Grenze für Fasanas Unternehmen keine Veränderung bedeuten.
Volkswirtschaftsdirektor Vitta treibt den Relaunch der Tessiner Wirtschaft weiter voran. Hierbei geht es nebst den kurzfristig eingeleiteten Massnahmen auch um strukturelle Projekte mittel- bis langfristiger Art. Aber wo momentan der Schwerpunkt liegt, ist für Vitta klar: Es sei dringend notwendig, mit geeigneten Massnahmen den Tourismus so gut wie möglich wieder anzukurbeln, da der Sommer vor der Tür stehe.
Es ist damit zu rechnen, dass die Schweizer heuer ihre Ferien meist im eigenen Land verbringen. Denn Auslandsreisen werden generell Einschränkungen unterworfen bleiben. Auch von daher dürfte Italiens Grenzöffnung, die einen deutlichen touristischen Hintergrund hat, nicht so stark ins Gewicht fallen.

Tessin will mehrstufige Grenzöffnung
In den nächsten zwei Wochen wird das Tessin bilanzieren, welche Folgen die allmähliche Öffnung der Baustellen, Firmen, Restaurants und der Schulen zeitigt. Hierbei könne man nicht von Vor- oder Nachteilen wirtschaftlicher Art sprechen, sondern nur von Vorsicht und Schutz der Bevölkerung, hält Regierungspräsident Gobbi fest. Diese Erfahrungen werde das Tessin in die Verhandlungen zwischen der Schweiz und Italien punkto Grenzöffnung einbringen. Der Bundesrat habe nämlich zugesichert, dass das Tessin mit einbezogen werde, so Gobbi.
Der Tessiner Regierungspräsident will dem Bundesrat keine Bedingungen aufzwingen. Gemäss seinen Worten geht es darum, sich auf einen genauen Grenzöffnungsplan – nach Möglichkeit einen mehrstufigen – zu einigen. Dann lässt sich ein Rückschlag mit dramatischen Folgen vermeiden. Gobbi betont: «Das Motto der Stunde lautet, Vorsicht walten zu lassen.»

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