Wie das Tessin die Schweiz im Kampf gegen Corona gerettet hat

Wie das Tessin die Schweiz im Kampf gegen Corona gerettet hat

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Der Südkanton pochte auf schärfere Massnahmen zur Eindämmung des Virus – und fühlte sich unverstanden. Eine Aufarbeitung.
Wer sich maskenfrei durch die Regale in Coop und Migrosschlängelt, riskiert böse Blicke. Manche Tessiner wundern sich deshalb, wie wenige Deutschschweizer eine Schutzmaske tragen. Und kommen sich wie Exoten vor, wenn sie in die Deutschschweiz reisen und eine montieren. Die Ergebnisse der aktuellen Sotomo-Umfrage passen zum Bild: In der italienischsprachigen Schweiz stösst eine generelle Maskenpflicht beim Einkaufen und im ÖV auf viel mehr Akzeptanz als im Rest des Landes. Die Tessiner taxieren auch die Lockerungsmassnahmen eher als überhastet.
Der Coronagraben kommt nicht von ungefähr. Einzig im Kanton Genf hat die Seuche bis jetzt stärker gewütet als im Tessin. Der allererste Schweizer Fall trat 25. Februar im Südkanton auf. Bis am Freitag zählte er insgesamt 350 Coronatote und 3324 Coronafälle. In unmittelbarer Nachbarschaft liegt der europäische Coronahotspot schlechthin, die Lombardei. Bilder von überlasteten Spitälern und zahlreichen Toten drangen in die Tessiner Fernsehstuben und schärften ein Gefahrenbewusstsein, als der Bund die Lage noch unter Kontrolle wähnte. Das Tessin fühlte sich denn auch unverstanden. So sehr, dass Gesundheitsdirektor Raffaele De Rosa (CVP) Mitte März sagte: «In Bern haben sie uns ins Gesicht gelacht.»

Pionier in der Bekämpfung des Virus
Auf welches Treffen mit welchen Teilnehmern sich De Rosa bezieht, mag er nicht verraten. Ende Februar und Anfang März sei es schwierig gewesen, die Lage im Tessin verständlich zu machen. «Aufgrund unserer Nähe zum Virenherd Lombardei hatten wir eine ganz andere Wahrnehmung», sagt er.
Nationalrat Lorenzo Quadri (Lega dei Ticinesi) schrieb später, De Rosa sei bei Bundesrat Berset mit der Forderung nach einer Grenzschliessung und Fiebermessung an der Grenze abgeblitzt. De Rosa erklärt, der Bund habe das Tessin später verstanden. «Schlussendlich hat er fast alle von uns vorgeschlagenen Massnahmen übernommen: zum Beispiel das Versammlungsverbot, die Grenzkontrolle und die Schliessung einiger Übergänge oder die Überarbeitung einiger Schutzmassnahmen.»
Das Tessin erwies sich in der Tat als Pionier der Coronabekämpfung. Ob Ausrufen des Notstands, Schulschliessungen oder Geisterspiele im Eishockey: Stets marschierte der Kanton voran. Im Nachhinein segnete der Bund im März auch die Baustellenschliessung ab, welche das Bundesamt für Justiz zunächst für illegal erklärte. Man gewährte den Kantonen sogenannte «Krisenfenster».
Mit wem man auch spricht, sei es mit Politikern, Bürgerinnen oder genesenen Covid-Patienten, der Tenor ist einhellig: Der Bund hat den Ernst der Lage zu spät erkannt. Fehlende Testkapazitäten für Personen mit Symptomen, die erratische Kommunikation zur Maskenfrage, die Kontroverse um das Enkelhüten lösten im Tessin vielleicht noch mehr Unbehagen aus, weil der Nachbar Italien mit der Ausgangssperre viel schärfer reagierte. Eine kohärente Strategie schien nicht greifbar.
Doch hat das Tessin mit seinem Vorpreschen den Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit um den Coronadelegierten Daniel Koch noch rechtzeitig geweckt und damit die Schweiz vor einer grösseren Coronawelle bewahrt? Christian Vitta (FDP), bis Anfang Mai Regierungspräsident, glaubt zumindest, dass sich das Virus dank dem Tessin in der Schweiz langsamer verbreitet hat (siehe Interview).
An warnenden Stimmen mangelte es nicht. SVP-Kantonsrat Tiziano Galeazzi brachte schon am Wochenende des 22./23. Februar, als Italien erste Todesfälle und eine steigende Anzahl neuer Infektionen meldete, Versammlungsverbote, Schulschliessungen oder verstärkte Grenzkontrollen ins Spiel. Letzteres tat auch Lega-Nationalrat Lorenzo Quadri mit obligater Breitseite gegen die Grenzgänger und die Personenfreizügigkeit.
Der Ruf nach verschärften Grenzkontrollen schien so sehr politisch motiviert, dass der Bundesrat deren sanitären Nutzen offenbar verkannte und sie erst am 13. März verhängte, als die Fallzahlen in die Höhe schnellten. Dabei hätte, wie Marcel Salathé, Epidemiologie-Professor an der ETH Lausanne, in der «NZZ am Sonntag» sagte, «eine frühere Schliessung der Grenze, insbesondere zu Italien, geholfen».

Koch ist bekannt für verspätete Massnahmen
Anders als in der Deutschschweiz geniesst Daniel Koch im Tessin keinen Kultstatus. In Anlehnung an den kahlköpfigen Onkel Fester der US-Fernsehserie «Adams Family» trägt er den Spitznamen «zio Fester». «Koch ist nicht bekannt für seinen Sprung in die Aare, sondern für die verspäteten Massnahmen», sagt Fabio Regazzi. Der Tessiner CVP-Nationalrat attestiert «Mister Corona» und Gesundheitsminister Alain Berset ein gutes Krisenmanagement; die beiden Hauptgesichter der Coronakrise würden aber in seinem Kanton weniger positiv beurteilt als im Rest des Landes.
Berset und Koch reisten erst nach Mitte März ins Tessin. «Zu spät», findet Paolo Beltraminelli. Der ehemalige CVP-Regierungsrat kontaktierte schon Anfang März die Bundesbehörden, um sie auf die angespannte Lage in seinem Heimatkanton aufmerksam zu machen. «Am Anfang hatten viele Tessiner das Gefühl, in Bern würden ihre Sorgen nicht wahrgenommen», sagt Beltraminelli. Er glaubt, sein Kanton habe einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung des Virus geleistet, weil er permanent auf seine dramatische Lage hingewiesen habe.
Das Virus hat auch Beltraminelli erwischt und im März zu einem zweiwöchigen Spitalaufenthalt gezwungen. Beide Lungenflügel und das Herz waren entzündet. Unterdessen hat sich der 58-Jährige erholt, steigt wieder aufs Rennvelo und joggt durch Wälder.

Regierungspräsident ist beunruhigt
Entspannt hat sich die Lage für den ganzen Kanton Tessin. Die Spitäler kamen trotz Befürchtungen nie an den Anschlag. An den meisten Tagen vermeldet er keine Neuansteckungen und keine weiteren Toten mehr. Anders als an Ostern («Bleibt zu Hause!») sind Deutschschweizer Touristen wieder willkommen. Schockplakate mit Bildern von Personen auf Intensivstationen («Möchtest du so enden?») sind abmontiert. Doch alle Sorgen haben sich nicht verflüchtigt. Noch immer verzeichnet die Lombardei täglich gegen 300 neue Coronafälle.
Dass die Grenzen seit Montag auch zu Italien wieder offen sind, bezeichnet Norman Gobbi, seit Mai Regierungspräsident, als «nicht ideal». Die epidemiologische Lage sei in Norditalien nicht unter Kontrolle. «Persönlich bin ich beunruhigt. Allen, die sich nach Italien begeben, rate ich zu Vorsicht», sagt der Lega-Regierungsrat. Zudem habe man dank der verstärkten Grenzkontrollen im Tessin weniger Kriminalität, weniger Schwarzarbeit und weniger italienische Handwerker registriert. Ganz unverblümt geisselt Nationalrat Lorenzo Quadri den Öffnungsschritt: «Hat der Bundesrat schon vergessen, dass das Tessin wegen der offenen Grenzen zum Seuchenherd Lombardei verpestet wurde?»