Die Tessiner Nabelschau

Die Tessiner Nabelschau

Da NZZ del 5 agosto 2016 | Peter Jankovsky: «Dank seiner Lage ist das Tessin zum Brückenbauer zwischen zwei Wirtschafts- und Kulturräumen prädestiniert. Doch immer wieder taucht ein lästiges Hindernis auf: der “Ticinocentrismo”».

Dieser Tage richtet sich die allgemeine Aufmerksamkeit aufs Tessin: Das Filmfestival Locarno läuft auf Hochtouren, und neben aller Internationalität ist es vor allem die Deutschschweiz, die sich hier ein Stelldichein gibt. Ein schönes Beispiel dafür, wie verbindend Kultur sein kann – und für einmal rückt das von den Tessinern ungeliebte Klischee der Sonnenstube in den Hintergrund. Doch was bedeutet der Südkanton dem Rest der Schweiz? Seit dem 9. Februar 2014 scheint den Tessinern selber die Vorstellung zu schmeicheln, Zünglein an der eidgenössischen Waage zu sein. Damals haben sie mit ihrem wuchtigen Ja zur SVP-Einwanderungsinitiative den Ausschlag zu deren knapper Annahme gegeben.

Was geht also südlich des Gotthards vor? Zwei Kontinentalplatten schieben sich hier übereinander – eine physikalische Schnittstelle, die einen dauernden Spannungszustand erzeugt. Und dieses Bild gewinnt angesichts des erstarkenden Kulturtourismus an Anziehungskraft: Das Tessin ist eine Schnittstelle zwischen Nord und Süd, ein Ort, an welchem die Kulturen aufeinanderprallen, sich durchdringen und einen fruchtbaren Dialog des Widerspruchs in Gang bringen können. Das zeigt der Monte Verità in Ascona seit über einem Jahrhundert und das Filmfestival immerhin mit seiner 69. Ausgabe. Schnittstellen dieser spezifischen Art und Dimension gibt es in der Deutschschweiz kaum. So könnte der Südkanton dem Land auf gesellschaftlicher Ebene einige Impulse geben.

Allerdings steht dem oft das typische Tessiner Malaise im Weg. Man fühlt sich von Italien bedrängt und von Bern vernachlässigt. Der Südkanton wird regelmässig zur Schnittstelle negativer Erscheinungen: Von Italien her strömt rund die Hälfte aller Flüchtlinge, welche die Schweiz erreichen, ins Tessin, dreimal startete Rom fiskalische Angriffe auf den Luganer Finanzplatz, während Bern sich lange Zeit auf bessere steuerliche Beziehungen zu Deutschland konzentrierte.

Als grösstes Problem erweisen sich aber die mehr als 60 000 italienischen Grenzgänger. Sie machen etwa einen Viertel aller Erwerbstätigen im Tessin aus. Tagtäglich überqueren die «frontalieri» die Grenze und nehmen angesichts der seit 2008 grassierenden Arbeitslosigkeit in der Lombardei immer schlechtere Lohn- und Arbeitsbedingungen in Kauf. Die Folge: Der Südkanton sieht sich mit Lohndumping konfrontiert, unter dem im Tessin lebende Arbeitnehmer in einem Masse leiden, dass nebst der SVP und der rechtspopulistischen Lega sogar die Grünen und erzlinke Gewerkschaften den Schutz der heimischen Arbeitsplätze fordern.

Personenverkehr provoziert

Gerade in dieser Sache flammt der alte Ärger gegenüber Bundesbern wieder auf: Dessen Argument, Arbeits-Immigranten trügen zum Wohlstand bei, greift im Tessin nicht. Denn in den Südkanton kommen meist nur «Tagesarbeiter» mit niedrigerer Ausbildung; diese zahlen abgesehen von der Quellensteuer keine Abgaben und kurbeln die Tessiner Wirtschaft auch nicht durch Konsum an. Wenn Bern mit der Problemlosigkeit der Personenfreizügigkeit argumentiert, ist dies für den Südkanton ein rotes Tuch. Daher hat die Kantonsregierung den Ex-Staatssekretär und heutigen ETH-Professor Michael Ambühl beauftragt, eine regional- und branchenspezifische Schutzklausel zu erarbeiten. Das Modell sieht keine fixen Höchstzahlen für die Zuwanderung vor, sondern «Messgrössen» wie das Lohnniveau oder die Arbeitslosigkeit.

Die Folge des problematischen Tessiner Arbeitsmarktes ist: Ausgerechnet an einer der exponiertesten Schnittstellen zwischen der EU und der Schweiz wächst die Europa-Feindlichkeit und flammt regelmässig Trotz gegen Bundesbern auf. Dabei wäre das Tessin zum Brückenbauer zwischen zwei wichtigen Wirtschafts- und Kulturräumen prädestiniert, ist doch das an Kulturschätzen überreiche Italien drittwichtigster Handelspartner der Schweiz und die Lombardei eine der wenigen boomenden Industrieregionen Europas.

Angesichts seiner besonderen und dringlichen Probleme neigt das Tessin dazu, sich allzu intensiv mit sich selber zu beschäftigen und sich von der übrigen Schweiz abzukoppeln. Da auch seit der Jahrtausendwende immer weniger italienischsprachige Schweizer in anderen Landesteilen und in der Bundesverwaltung arbeiten, hat sich die typisch tessinerische Form von Nabelschau, der «Ticinocentrismo», verstärkt. Diesen hat der schweizweit wohlbekannte CVP-Ständerat Filippo Lombardi schon vor Jahren beklagt. Sogar die mächtige Sehnsucht nach einem Bundesrat oder einer Bundesrätin italienischer Muttersprache – seit 1999 ist die «Svizzera italiana» nicht mehr in der Landesregierung vertreten – scheint etwas nachzulassen. Selbst die Solidarität mit der «vierten Schweizer Minderheit», nämlich Italienischbünden, wird schwächer. Die kulturelle und wirtschaftliche Schnittstelle Tessin leidet an zunehmender Abschottung und einer Schwächung der eidgenössischen Denkungsart.

Sich an Bern anpassen

Dies erkannte die Tessiner Handelskammer schon vor Jahren und entsandte zwecks Lobbying eine Art Botschafter nach Bern. Bald darauf folgte die Kantonsregierung mit einem eigenen Mann, und auch die Tessiner Bundesparlamentarier legten sich stärker und geeinter ins Zeug. Die Einsicht, dass nur die Bereitschaft zum Zwiegespräch das Tessin weiterbringt – und zwar in Bern selber –, gewann an Boden. Gerade das erfolgreiche und vom schweizerischen Stimmvolk bestätigte Engagement in Sachen Sanierung und verhinderte Schliessung des Gotthard-Strassentunnels führte den Tessinern eines vor Augen: Als konstruktiv argumentierende und vor allem auch agierende Minderheit können sie in Bundesbern viel Gehör finden.

Doch im Tessin herrscht eigentlich ein Wechselspiel von Öffnung und Abschottung. Immer wieder taucht das lästige Hindernis des «Ticinocentrismo» auf. Die Personenfreizügigkeit erweist sich als die grösste Problem-Schnittstelle, weil sie den helvetischen Süden gleich dreifach unter Druck setzt: von Italien her, auf nationaler Ebene und innerkantonal. So ist der Südkanton geradezu gezwungen, sich intensiv mit sich selber zu beschäftigen, womit ein neuerliches Wegdriften von Bern und weitere kantonsinterne Streitereien drohen. Dies, zumal im Herbst eine Initiative der Tessiner SVP zur Abstimmung gelangt, die fordert, bei gleicher Qualifikation konsequent die Inländer zu bevorzugen. Aber gerade deswegen muss das Tessin umso aktiver auf Bundesbern zugehen, welches seinerseits die spezifischen Nöte des Südkantons besonders ernst nehmen muss.

Mit der Ernennung des bisherigen «Tessiner Botschafters» Jörg De Bernardi zum Vizekanzler hat die Landesregierung das richtige Zeichen gesetzt. Und dieser moniert, dass sich der Südkanton an den Rhythmus und die Abläufe Bundesberns anpassen sollte, um möglichst viel zu erreichen. Damit die Tessiner Eigeninitiative nicht erlahmt, braucht es aber nebst De Bernardi weitere Exponenten, die in der Deutschschweiz eine klare und aktive Präsenz markieren. Dies betrifft die Tessiner Bundesparlamentarier und vor allem den christlichdemokratischen Ständerat Lombardi, der wie FDP-Nationalrat und Fraktionschef Ignazio Cassis als möglicher Anwärter auf einen Sitz im Bundesrat gehandelt wird. Es ist auch gut, dass der ehemalige Bundesratskandidat Norman Gobbi in verschiedenen gesamtschweizerischen Gremien sitzt und den Sprung nach Bern versucht hat: Der sich staatsmännisch gebende Lega-Regierungsrat kann durch solcherlei Einbindung das eidgenössische Bewusstsein seiner rechtspopulistischen Partei schärfen – denn just sie befeuerte den «Ticinocentrismo» seit ihrer Gründung vor 25 Jahren nur allzu gerne.

Gelingt es dem Tessin, neue Anknüpfungspunkte in Bern zu schaffen, kann es endlich zu seiner «eidgenössischen» Aufgabe finden: Brücke und Vermittler zwischen zwei kulturellen und wirtschaftlichen Grossräumen sein. Und wenn sich dank mehr «Italofonie» auf Bundesebene die Beziehungen zu Italien merklich aufhellen, steht die Eidgenossenschaft in der EU besser da. Die Schnittstelle im Süden der Schweiz hat also noch viel Potenzial, das brachliegt.

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