«Das ist ein Traum von mir»

«Das ist ein Traum von mir»

Matteo Cocchi, Tessiner Polizeikommandant und oberster Polizist der Schweiz, über die Frauen-EM, die Super League und Tendenzen in Italiens Fussball.

Sie sind oberster Polizist der Schweiz. Wie haben Sie die Frauen-EM erlebt? 
Matteo Cocchi: Sehr positiv. Es war ein Fest ganz im Sinne des Sports, das international ausgestrahlt hat. Die Menschen gingen mit einer anderen mentalen Vorbereitung an die Spiele, als wir es manchmal in der Super League erleben: Sie wollten eine positive, friedliche und fröhliche Atmo-sphäre erleben. Es wäre wünschenswert und schön, könnten wir so etwas auch bei allen internationalen Männer-Nationalmannschaften oder sogar bei Spielen der Super League sehen. Das ist ein Traum von mir. Vielleicht wird er ja eines Tages wahr.

Im Vorfeld hat das Bundesamt für Informatik vor Cyberangriffen gewarnt. Gab es solche?
Nein, es gab sie nicht. Wir hatten zwar aufgrund unserer Erfahrungen mit Grossanlässen eine Liste mit möglichen Bedrohungen aufgestellt. Darin waren auch Cyberangriffe enthalten. Doch die Euro verlief tatsächlich sehr ruhig. Könnte man sich wünschen, wie ein Grossanlass verlaufen sollte, wäre die Frauen-EM das Musterbeispiel. 

Vor der Männer-Euro 2008 war die Situation anders. Die Nervosität war hoch, Bundesrat Samuel Schmid führte im Vorfeld Terrorübungen durch.
Ich war zwar 2008 noch nicht Polizeikommandant, sondern Berufsoffizier in der Armee. Klar ist aber: Seit der Euro 2008 gab es eine deutliche Entwicklung. Wir haben in dieser Zeit sehr viel gelernt, auch wegen der Terroranschläge von 2015 in Europa. Wir haben Polizeitaktiken neu konzipiert, die Dispositive weiterentwickelt. Die Partner im Sicherheitsverbund Schweiz arbeiten heute viel enger zusammen als damals.

Sorgten Grossanlässe wie Euro 2008, WEF , Wiederaufbau-Konferenz in Lugano und Bürgenstock-Konferenz für eine Art Routine?
Wir und alle beteiligten Sicherheitspartner bereiteten die Frauen-EM im Hintergrund so vor, wie wir heute jeden Grossanlass vorbereiten: ohne allzu grosse Öffentlichkeitsarbeit. Selbstverständlich gibt es eine sehr enge Zusammenarbeit der verschiedenen Polizeikorps innerhalb der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandantinnen und -kommandanten der Schweiz KKPKS. Sagen wir es so: Die Maschine ist gut geölt. 

Gibt es polizeitaktisch einen wesentlichen Unterschied zwischen der Euro 2008 und der Euro 2025? 
Der Einsatz im Jahr 2008 verlief damals im Sinne der Vereinbarung über die interkantonalen Polizeieinsätze, auch weil ein wesentlich grösseres Polizeiaufgebot nötig war. 2025 waren die Kantone und Städte selbst für die Sicherheit verantwortlich, sie bewältigten die Einsätze selbstständig und unterstützten sich, wo nötig, innerhalb der Polizeikonkordate. Der Führungsstab Polizei erbrachte an der Euro 2025 stärkere Leistungen in der Koordination und in der Beurteilung der Lage als bei anderen Veranstaltungen.

Wer gehört dem Führungsstab Polizei an?
Geführt wird er von Andreas Moschin, dem Leiter der Flughafenpolizei Zürich und stellvertretenden Kommandanten der Kantonspolizei Zürich. Ihm stehen sämtliche Kanäle des Sicherheitsverbunds Schweiz offen, um ein Lagebild zu erstellen. Dazu gehören auch der Nachrichtendienst des Bundes und das Bundesamt für Polizei. Jeder Kanton ist mit einer Person im Stab vertreten. Wichtig ist, dass sich bei einem Grossanlass alle Partner des Sicherheitsverbundes Schweiz austauschen können.

Welche Leistungen erbrachte der Führungsstab? 
Er erstellte etwa ein Konzept für die Drohnenabwehr in den acht verschiedenen Stadien, wo die Spiele ausgetragen wurden. Heute müssen sich die Einsatzkräfte bei jeder Grossveranstaltung auf Drohnenangriffe vorbereiten. Wir haben dies im Vorfeld zentral koordiniert, damit bei jedem Spiel die Abwehr gewährleistet war mit den Mitteln, die zur Verfügung stehen.

Als Besucher fiel auf, dass die Städte unterschiedlich gewichteten. Bern sicherte die Fanzone beim Bundeshaus doppelt und sperrte für die Fanmärsche alle Seitenstrassen. In Basel waren die Seitenstrassen offen. Genf wiederum hatte eine hohe Polizeipräsenz. 
Genau wie in der Super League war eben jeder Kanton selbst für die Sicherheit von Spielen, Fanzonen und Fanmärschen verantwortlich. Bis auf wenige Empfehlungen machten weder der Führungsstab noch die Polizei kommandantenkonferenz Vorgaben auf Detailebene. Ich kann mir gut vorstellen, dass Schutzmassnahmen auch mit dem Standort verbunden waren. In der Innenstadt von Bern müssen andere Infrastrukturen geschützt werden als auf der Fanmarschroute in Basel.

Sie denken an Bundeshaus, Nationalbank und Berner Altstadt als Unesco-Weltkulturerbe?
Zum Beispiel. Grundsätzlich wenden wir im Ordnungsdienst die 3-D-Strategie an: Dialog, Deeskalation, Durchgreifen. Das ist die Basis. Die Frauen-EM konnten wir fast ausschliesslich über Dialog begleiten. 

Was kann der Männerfussball von der Frauen-EM lernen? 
So direkt lässt sich das nicht sagen. Der Unterschied liegt nicht in erster Linie beim Fussball selbst, sondern bei den Begleiterscheinungen um den Fussball herum. Besonders deutlich zeigt sich das jetzt in Italien. Da haben inzwischen mit der AC Milan und Inter Mailand Vereine selbst Massnahmen gegen gewalttätige Fans ergriffen.

Die AC Milan und Inter haben nach Ermittlungen gegen Ultra-Gruppierungen entschieden, «unerwünschte Fans», die gegen den Ethik-code der Vereine verstossen, nicht mehr ins San Siro zu lassen.
Genau. Wir müssen die Entwicklungen auch im Ausland beobachten. Sportveranstaltungen sind letztlich dafür da, allen Menschen Freude zu bereiten. Auch Familien sollen ohne Probleme an Fussballspiele gehen können. Deshalb wäre es schön und gut für alle, wenn Sportveranstaltungen generell so ablaufen würden wie die Spiele der Frauen-EM.

Wie beurteilen Sie die Situation heute in den Stadien der Super League? 
Wir müssen die Lage ständig neu beurteilen, weil wir Risiko-spiele haben. Mit dem Kaskadenmodell haben wir 2024 Massnahmen getroffen, die wir in dieser Saison weiterführen. 

Das Kaskadenmodell ist sehr umstritten, auch juristisch. 
Wir werden damit weiterfahren. Nach einer Saison lässt sich kein definitives Urteil fällen. Wir haben eine Linie und eine Modell-entwicklung und sind der Ansicht, dass sich die Situation damit verbessern lässt. Entscheidend bleibt allerdings der Dialog zwischen Bewilligungs-behörden, Polizei und Vereinen. Wir müssen ihn unbedingt weiterführen. Lösungen sind nur im Dialog möglich. Das sage ich in den Gremien immer wieder. Deshalb ist ein verstärkter Dialog auch die erste Massnahme im Kaskadenmodell, wenn etwas nicht gut läuft.

Führt die Polizei auch einen Dialog mit den Fans? 
Der Dialog mit den Fans ist ebenfalls Bestandteil unserer Arbeit. Er ist wichtig.

Die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren will personalisierte Tickets. Wie sehen Sie das? 
Personalisierte Tickets sind ein mögliches Mittel, welches unter anderem dazu beitragen kann, die Einzeltäterverfolgung und die Sicherheit im Stadion generell zu verbessern. Dafür brauchen wir aber wohl gesetzliche Grundlagen. In anderen Ländern funktionieren personalisierte Tickets, das könnte auch bei uns so sein.

Meist findet Gewalt im Zusammenhang mit Fussball heute ausserhalb der Stadien statt. 
Diese Gewalt hat auch mit dem Spiel zu tun. Klar ist: Im Stadion selbst muss der Verein für Ruhe und Ordnung sorgen, ausserhalb des Stadions die Polizei. Es braucht die Zusammenarbeit aller.

In Zürich versuchen Fans des FC Zürich, GC-Fans mit Gewalt aus der Stadt zu vertreiben. Für wie gravierend halten Sie die Situation?
Diese Frage müssen Sie den zuständigen Polizeikorps stellen. Ich kann die Situation in Zürichnicht beurteilen. Entscheidend ist, dass man in solchen Situationen etwas unternimmt. Das ist in Zürich der Fall.

Sie selbst haben als Kommandant der Kantonspolizei Tessin gezeigt, wie man reagieren kann. Als Ende 2024 Ultras des Fussballklubs Lugano normale Fans des Eishockeyklubs Ambri-Piotta gewalttätig angriffen, reagierten Sie und verhafteten siebzehn Personen. Muss man schnell handeln, um eine Situation wie in Zürich zu verhindern?
Sie haben ein sehr gutes Adjektiv gewählt: schnell. Wenn etwas geschieht, muss man sofort ermitteln, um Fehlbare möglichst schnell anhalten zu können. Nicht nur im Stadion, auch ausserhalb. 

Können Sie sagen, was mit den siebzehn festgenommenen Personen geschehen ist?
Wir ermitteln noch. Aber ich hoffe, dass diese Ermittlungen ein Zeichen sind gegenüber anderen möglichen Gewalttätern.

Wie schätzen Sie sich als Polizeikommandant selbst ein? Sind Sie ein Hardliner? Ich bin sicher kein Hardliner. Aber ich mache als Polizeikommandant meinen Job. Wir sind verantwortlich für Ruhe und Ordnung. Greifen präventive Massnahmen und Dialog nicht und es passiert etwas, muss die Polizei handeln. Für das Urteil ist dann die Justiz zuständig. 

Sie sind seit Ende 2024 oberster Polizist der Schweiz. Hat sich Ihr Leben verändert? 
Nein. Ich sass schon zuvor für die Schweiz jahrelang im Atlas-Verbund der europäischen Antiterror-Spezialeinheiten. Und ich war Direktor der Interventionskurse am Schweizerischen Polizei-Institut. Jetzt habe ich eine neue Herausforderung, die mir sehr gut gefällt. Ich bin ein Mann des Dialogs und glaube, dass ich damit einiges erreichen kann.

Intervista al comandante della Polizia cantonale Matteo Cocchi pubblicata su oggi Aargauer Zeitung, Luzerner Zeitung und St. Galler Tagblatt.

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